Schritt für Schritt als Motivation

Fünf Jahre ist es jetzt her, dass ich mich aus der Elternzeit heraus nebenberuflich selbständig gemacht habe. Und das waren ganz schön wilde fünf Jahre. Der offizielle Akt zur Gründung im Freiberuf ist die Anmeldung beim Finanzamt. Das war am 20. März 2020. Und zwei Tage später? Lockdown! Corona-Pandemie! Sowas stand nun wirklich in keinem Gründungsleitfaden.

Um die Infektionsketten zu unterbrechen, stemmte sich das ganze Land kollektiv auf die Bremse. Dieses Anhalten und Innehalten sollte zumindest für mich später auch immer wieder zum Abenteuer Gründung dazugehören. Aber da komme ich wann anders noch mal drauf zurück.

Statt Akquise und Netzwerken standen also erst mal ganz andere Dinge auf dem Plan. Und da gehörte zu einem großen Anteil auch Angst und Unsicherheit dazu. Weniger wegen der fraglichen Perspektive auf eine erfolgreiche Selbständigkeit, als um Leib und Leben, wie man so schön sagt. Denn ich war und bin Teil der sogenannten vulnerablen Gruppe. Der Vorerkrankten. Und bevor ich im nächsten Beitrag weiter auf meinen beruflichen Hintergrund und #EineBarriereWeniger eingehe, soll es erst mal eine persönliche Vorstellung geben.

Erst eine, dann noch eine Autoimmunerkrankung

Seit 2017 lebe ich mit mehreren chronischen Autoimmunerkrankungen. Die erste im Bunde war eine Myasthenie oder Myasthenia Gravis. Das ist eine neuro-muskuläre Erkrankung, bei der die Informationsvermittlung zwischen Nerven und Muskeln gestört sein kann. In meinem Fall war das stärkste Symptom bei Ausbruch der Krankheit ein gelähmter Augenmuskel. Mein rechtes Auge ließ sich nicht mehr nach innen bewegen, was vor allem von außen gruselig ausgesehen hat. Von innen war es einfach nur nervig, weil ich alles links von mir doppelt gesehen habe.

Mit Doppelbildern hatte ich als Jugendlicher schon mal zu tun. Damals wusste niemand so recht, was die Ursache dafür ist. Mit dem Wissen um die Myasthenie liegt es allerdings nahe, dass diese Doppelbilder auch dafür ein Symptom waren. Nach der Diagnose 2017 erhielt ich passende Medikamente und ließ mir zwei Jahre später die Thymusdrüse entfernen. Seitdem ist zum Glück Ruhe.

Ein geflügeltes Wort lautet „Eine Autoimmunerkrankung kommt selten allein“. Und das kann ich so bestätigen. Den Schock darüber, mit 23 plötzlich chronisch erkrankt zu sein, hatte ich noch gar nicht verdaut, da kam schon die nächste um die Ecke. Nach einem ziemlich nervigen Magendarminfekt brach eine Spondyloarthritis aus – eine rheumatische, chronisch-entzündliche Erkrankung der Wirbelsäule, meist begleitet durch weitere Entzündungen an Gelenken und anderen Stellen des Körpers. Vielleicht hast du schon mal was von Morbus Bechterew gehört? Das ist auch eine Form der Spondyloarthritis, wird aber häufig synonym verwendet und ist daher bekannter.

Während die Myasthenie mich „nur“ psychisch umgehauen hat, war das beim Bechterew das Komplettpaket. Durch den vorangegangenen Magen-Darm-Effekt und die fehlende Bewegung habe ich insgesamt 15 Kilo abgenommen. Das war fast ein Viertel meines Körpergewichts und zu großen Teilen Muskelmasse. Dadurch fehlte es an Stabilität und Unterstützung für die Wirbelsäule, was die Bechterew-bedingten Entzündungen vielleicht erst ermöglicht, auf jeden Fall aber massiv befeuert hat. Und mehr Schmerz führte zu weniger Bewegung führte zu mehr Muskelabbau führte zu mehr Schmerz… ein Teufelskreis!

Schritt für Schritt

In der Zeit konnte ich mich selbst mit starken Schmerzmitteln kaum bewegen. Kurze Strecken waren nur mit Gehhilfe möglich. Duschen konnte ich in meiner Wohnung gar nicht, weil ich die 20 Zentimeter Stufe schlichtweg nicht hoch kam. „Such dir eine Altbau-Wohnung“ haben bei meinem Umzug nach Berlin alle gesagt. Aber dass das bedeuten kann, dass man in der eigenen Wohnung nicht duschen kann, hat keiner erwähnt. Schöne Scheiße.

In den darauffolgenden anderthalb Jahren ging es mit zunächst unpassenden, irgendwann aber auch passenden Medikamenten, vielen vielen Schmerzmitteln und unzähligen Physiotherapie-Einheiten immer irgendwie weiter. Spätestens nach der Reha im Anschluss an die Thymus-OP war ich aber zum Glück irgendwann übern Berg.

Aus dieser Zeit kommt auch meine tiefe Überzeugung, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Wenn ich für den eigentlich nur zwei Minuten dauernden Fußweg zur Bushaltestelle aufgrund meiner Gehbehinderung 20 Minuten brauchte, durfte ich nicht die ganze Zeit auf mein Ziel gucken. Sonst wär ich gar nicht mehr weitergelaufen, weil der Weg so weit schien. Stattdessen konzentrierte ich mich immer auf den nächsten Schritt. Und dann den nächsten. Und dann wieder den nächsten. Genau so mache ich es mit #EineBarriereWeniger: das Ziel kennen, aber den Fokus auf den nächsten Schritt richten. Erst eine Barriere abbauen, dann die nächste, und so weiter.

Das Problem bei chronischen Erkrankungen ist aber eben, dass sie chronisch sind. Das heißt, sie gehen nicht wieder weg.

Mit der Myasthenie lebe ich jetzt bereits sechs Jahre symptomfrei. Eine Garantie, dass nicht jederzeit wieder Doppelbilder auftreten oder Muskeln ohne Ankündigung vorübergehend ausfallen, ist das jedoch nicht. Gegen den Bechterew nehme ich seit acht Jahren Medikamente und muss alle drei Monate zur Kontrolle bei meiner wunderbaren Rheumatologin. In dieser Zeit hatte ich nur einen, zum Glück sehr kurzen Erkrankungsschub. Wie froh war ich, dass ich da meinen Gehstock direkt aus dem Schrank ziehen konnte. Der heißt übrigens Fritz 😉

Während der Krankheitsphasen gab es zwei sehr gegensätzliche Erfahrungen:

  1. die Last, ständig und überall mit Barrieren konfrontiert zu sein
  2. die Lebensqualität, die durch Barrierefreiheit und inklusive Strukturen ermöglicht wird.

Die eigenen Erfahrungen haben die Motivation noch mal gesteigert, mich intensiver mit Barrierefreiheit auseinander zu setzen. Als ich Bauingenieurwesen studiert habe, kam das Thema im Lehrplan überhaupt nicht vor. Sichtbare Inklusion gab es an der Hochschule auch nicht – wie auch, wenn die meisten Veranstaltungen in einem ehemaligen Kasernengebäude ohne bauliche Barrierefreiheit stattfanden? Auf den Hinweis eines Freundes habe ich mich jedoch außerhalb des Lehrplans mit dem Thema beschäftigt und war schon damals der Meinung, dass das doch so kompliziert nun wirklich nicht ist.

Komplex aber nicht kompliziert

Davon bin ich auch immer noch überzeugt! Barrierefreiheit an sich ist nicht kompliziert. Wenn man sie umfangreich betrachtet, ist sie komplex. Aber nicht kompliziert. Sie nachträglich in bestehende Planungen noch auf Biegen und Brechen reinzubekommen, kann aber tatsächlich oft eine Herausforderung sein. Das liegt aber nicht an der komplexen Materie, sondern an mangelhaften Planungen. Natürlich entsteht zusätzlicher Aufwand, also sowohl Arbeitszeit als auch Kosten, wenn ich noch mal die ganze Planung umwerfen muss, um Barrierefreiheit zu realisieren. Das liegt aber nicht an den notwendigen Maßnahmen, sondern daran, dass sie nicht rechtzeitig berücksichtigt wurden!

Und weil ich schon früh wusste, dass ich mich irgendwann selbständig machen würde, war spätestens mit den eigenen Erkrankungen klar: sobald ich die Kapazitäten habe, setze ich mich mit fachlicher Expertise und der Perspektive als Betroffener für Barrierefreiheit ein.

Und damit sind wir wieder am Anfang des Beitrags, der Anmeldung beim Finanzamt am 20. März 2020. Und wieder bei der Pandemie. In dieser allgemein sehr unsicheren Zeit, waren Behinderte und chronisch Erkrankte mit noch viel mehr Unsicherheit konfrontiert. Sowohl auf individueller Ebene (Welche Auswirkungen hat eine Corona-Infektion auf meinen Körper und meine Grunderkrankungen?) als auch auf gesellschaftlicher Ebene (Wer wird bevorzugt behandelt? Geimpft? In der Triage besser oder schlechter bewertet?).

Das war zumindest für mich keine Zeit, um an großen Zukunftsplänen zu arbeiten. Zusätzlich zur Sorge um die eigene Gesundheit kam noch die Sorge um mein Kind, das noch nicht mal ein Jahr war. Der Start in die Selbständigkeit musste also noch warten.

Meinen Weg von dieser Zeit bis heute, wenn du den #EineBarriereWeniger-Podcast hörst oder in Blogform liest, besprechen wir dann einfach im nächsten Beitrag.

Wir hören uns,
Ciao!

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